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Reportage

Gefahr für uns alle: Was die Deregulierung der Gentechnik wirklich bedeutet

Die Europäische Union hat mit der geplanten Lockerung der Gentechnikregeln eine Entscheidung getroffen, deren Tragweite auf den ersten Blick kaum erkennbar ist

12/7/2025
  • Konsumentenschutz
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Gefahr für uns alle: Was die Deregulierung der Gentechnik wirklich bedeutet

Die Europäische Union hat mit der geplanten Lockerung der Gentechnikregeln eine Entscheidung getroffen, deren Tragweite auf den ersten Blick kaum erkennbar ist, die jedoch in ihren Konsequenzen weit mehr bedeutet als eine technische Anpassung veralteter Gesetze. Mit einem Federstrich sollen Pflanzen, die mittels neuer genomischer Techniken verändert wurden, in weiten Teilen der Lebensmittelproduktion künftig so behandelt werden, als seien sie konventionell gezüchtet. Dabei handelt es sich keineswegs um eine bloße Formalität, sondern um eine politische Weichenstellung, die Transparenz abbaut, Risiken verschleiert und die Kontrolle über unsere Ernährung in die Hände weniger Konzerne legt.

Der Kern der Reform besteht darin, moderne Genome-Editing-Verfahren aus der bisherigen Gentechnikgesetzgebung herauszulösen. Ihre Ergebnisse sollen als natürlich genug gelten, um sie nicht mehr einer gesonderten Prüfung, Kennzeichnung oder Rückverfolgbarkeit zu unterwerfen. Diese Argumentation klingt pragmatisch, entpuppt sich aber bei genauerem Hinsehen als wissenschaftlich dünn und gesellschaftlich riskant. Denn selbst wenn Änderungen im Erbgut theoretisch auch spontan in der Natur auftreten könnten, bedeutet das nicht, dass menschengemachte Eingriffe dieselben Folgen hätten oder in ökologischen Zusammenhängen harmlos wären. Die Gleichsetzung von technisch erzeugter Präzisionsmutation und natürlicher Variation ist vielmehr eine politische Entscheidung, die den Effekt hat, die Technologie aus dem Bereich der öffentlichen Kontrolle zu entfernen.

Angriff auf das Vorsorgeprinzip

Besonders problematisch ist dabei die vorgesehene fehlende Kennzeichnung im Endprodukt. Damit wird der Bevölkerung die Möglichkeit genommen, bewusste Entscheidungen zu treffen. Jahrzehntelang hat Europa die Wahlfreiheit der Konsumentinnen und Konsumenten betont, gerade im Bereich der Ernährung. Viele Menschen lehnen gentechnisch veränderte Lebensmittel ab, sei es aus gesundheitlicher Vorsicht, aus ökologischen Gründen oder aus Ablehnung monopolistischer Agrarmodelle. Mit der Reform wird diese Wahlfreiheit untergraben – nicht durch Überzeugung, sondern durch Unsichtbarmachung. Eine Technologie, über deren Einsatz sich weite Teile der Bevölkerung kritisch äußern, wird nun auf stille Weise in den Alltag eingeführt. Der politische Effekt ist eine Entmündigung der Bürgerinnen und Bürger, die künftig nicht mehr erkennen können, welche Produkte Eingriffe ins Erbgut enthalten und welche nicht.

Die Reform ist auch ein direkter Angriff auf das Vorsorgeprinzip, das bisher zu den zentralen Grundsätzen der europäischen Umwelt- und Gesundheitspolitik gehörte. Statt potenzielle Risiken umfassend zu prüfen, setzt man nun auf Annahmen, die keine empirische Grundlage haben: dass moderne Genome-Editing-Verfahren „präzise genug“ seien, um keine unbeabsichtigten Veränderungen zu verursachen; dass ökologische Nebenwirkungen vernachlässigbar seien; dass Kontrolle durch Transparenz ersetzt werden könne, obwohl Transparenz gleichzeitig abgeschafft wird. Off-Target-Effekte, unvorhersehbare Wechselwirkungen in komplexen Ökosystemen, Auskreuzung in Wildbestände – all das wird in der neuen Gesetzgebung nicht berücksichtigt, obwohl diese Phänomene wissenschaftlich dokumentiert sind und gerade deshalb strenge Prüfsysteme eingeführt wurden.

Existenzielle Bedrohung

Hinzu kommt ein weiteres, kaum weniger brisantes Thema: die Machtverschiebung auf dem globalen Saatgutmarkt. Die Deregulierung begünstigt vor allem diejenigen, die patentierte NGT-Pflanzen entwickeln und vermarkten. Diese Unternehmen haben ein offensichtliches Interesse daran, möglichst schnelle Marktzugänge zu erhalten, möglichst wenige verpflichtende Prüfungen durchlaufen zu müssen und vor allem keine Kennzeichnungspflicht zu haben – denn jedes sichtbare „gentechnisch verändert“ auf einem Produkt wirkt verkaufshemmend. Mit der neuen Regelung wird ihnen ein Wettbewerbsvorteil zugeschanzt, der kaum zu überschätzen ist. Während konventionelle und biologische Züchtungen seit Generationen für Vielfalt, Anpassungsfähigkeit und regionale Besonderheiten stehen, setzen internationale Konzerne auf hochstandardisierte, patentierte Sorten, die Abhängigkeiten schaffen. Wer patentiertes Saatgut verwendet, darf es nicht weitervermehren, muss Jahr für Jahr neu kaufen, macht sich damit finanziell abhängig und verliert zugleich einen Teil seiner agrarischen Selbstbestimmung.

Für kleine und mittelständische Zuchtbetriebe, für Biobäuerinnen und Biobauern, für Regionen mit starker gentechnikfreier Identität bedeutet die Deregulierung eine existenzielle Bedrohung. Denn während gentechnikfreie Betriebe künftig beweisen müssen, dass ihre Produkte nicht kontaminiert sind, entfällt für die Entwickler neuer Sorten die Pflicht zur Rückverfolgbarkeit. Das Kräfteverhältnis verschiebt sich dadurch fundamental: Wer gentechnikfrei arbeiten möchte, trägt die Beweislast, wer gentechnisch verändert, bleibt anonym. Das ist mehr als ein regulatorisches Detail – es ist ein politisches Signal, das zeigt, welche Anbausysteme künftig gefördert und welche strukturell benachteiligt werden.

Wieder keine Transparenz

Besonders heikel ist auch der Umgang mit Risiken, die erst langfristig sichtbar werden. Pflanzen, die auf Resistenz gegen Trockenheit oder Schädlinge ausgelegt sind, mögen kurzfristig Vorteile bringen, doch ihre ökologischen Wechselwirkungen sind schwer vorhersehbar. Wie wirken sich genomeditierte Pflanzen auf Nützlinge aus? Wie verändern sie mikrobielle Gemeinschaften im Boden? Welche Folgen hat ihre Auskreuzung auf Wildpflanzen? Werden Resistenzgene möglicherweise weitergegeben und unkontrollierbar? Keine dieser Fragen lässt sich abschließend beantworten – und doch beschließt die EU, auf systematische Prüfungen weitgehend zu verzichten. Der Versuch, biologisch komplexe Systeme allein über technische Präzision beherrschen zu wollen, erinnert an frühere Fehlentscheidungen der Agrarpolitik, die oft erst Jahre später korrigiert werden konnten – manchmal zu spät.

Die Entscheidung zur Deregulierung fällt zudem in eine Zeit, in der Vertrauen in politische Institutionen europaweit sinkt. Statt dieses Vertrauen zu stärken, indem man transparente Debatten fördert und gesellschaftliche Beteiligung ermöglicht, setzt man auf beschleunigte Verfahren und Entscheidungen hinter verschlossenen Türen. Viele Bürgerinnen und Bürger erfahren erst aus der Berichterstattung, dass ihre Wahlfreiheit eingeschränkt und ihr Informationsrecht beschnitten wird. Genau diese Vorgehensweise hat das Potenzial, Spaltungen zu vertiefen und Misstrauen weiter wachsen zu lassen.

Debatte muss neu geführt werden

Hinzu kommt, dass die Reform als alternativlos dargestellt wird. Der Eindruck entsteht, dass es nur zwei Optionen gebe: moderne Gentechnik oder agrarische Stagnation. Doch diese Darstellung blendet die existierende Vielfalt nachhaltiger Anbaumethoden aus – ökologische Landwirtschaft, traditionelle Sortenzüchtung, agrarökologische Konzepte und resiliente, diversifizierte Anbausysteme. All diese Ansätze haben in den letzten Jahrzehnten bewiesen, dass sie robuste Erträge liefern, Biodiversität stärken, Ressourcen schonen und weniger abhängig von globalen Saatgutkonzernen sind. Die Deregulierung drängt diese Alternativen aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit und schafft politische Rahmenbedingungen, die sie langfristig verdrängen könnten.

Europa steht damit an einem Scheideweg. Die Frage ist längst nicht mehr nur, wie Pflanzen gezüchtet werden sollen, sondern wem die Zukunft der Ernährung gehören wird. Einer demokratisch kontrollierten, diversifizierten Landwirtschaft oder einem industriell-technologischen System, das auf Patente, Standardisierung und Abhängigkeit setzt. Mit der Deregulierung neuer Gentechnikverfahren entscheidet sich die EU spürbar für die zweite Option – und nimmt in Kauf, dass die langfristigen Folgen erst sichtbar werden, wenn der Rückweg kaum noch möglich ist.
Wenn Europa glaubwürdig bleiben will, muss die Debatte um neue genomische Techniken neu geführt werden – transparent, wissenschaftlich ausgewogen und unter Einbeziehung der Öffentlichkeit. Ohne Kennzeichnung, ohne umfassende Risikoprüfung und ohne Schutz der gentechnikfreien Landwirtschaft bleibt die aktuelle Reform jedoch ein riskantes Experiment, dessen Konsequenzen auf den Feldern und Tellern von Millionen Menschen landen werden.


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