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Vegetarismus: Eine lebensbejahende Ernährung mit langer Tradition

Eine neue ARTE-Dokumentation entfaltet die Geschichte fleischloser Ernährung als weitreichende kulturelle, spirituelle und gesellschaftliche Praxis, die viel älter ist als moderne Ernährungsdebatten.

12/2/2025
  • Landwirtschaft
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Vegetarismus: Eine lebensbejahende Ernährung mit langer Tradition

Eine neue ARTE-Dokumentation entfaltet die Geschichte fleischloser Ernährung als weitreichende kulturelle, spirituelle und gesellschaftliche Praxis, die viel älter ist als moderne Ernährungsdebatten. Sie zeigt Vegetarismus nicht als Trend der Gegenwart, sondern als menschliche Tradition, die sich über mehr als zweieinhalb Jahrtausende hinweg entwickelt hat. Im Zentrum stehen die Fragen, warum Menschen zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Kulturen auf Fleisch verzichtet haben, wie dieser Verzicht begründet wurde und welche sozialen, moralischen oder politischen Bedeutungen sich daraus ergeben haben.

Der Film beginnt mit dem Hinweis, dass der Mensch biologisch ein Allesesser ist. Gerade diese Flexibilität ermöglicht es aber erst, dass ganze Kulturen oder Gruppen bestimmte Lebensmittel bewusst ausschließen. Schon früh in der Menschheitsgeschichte entstand daher die Vorstellung, dass Ernährung mehr ist als reine Nahrungsaufnahme: Sie ist Ausdruck einer Haltung zum Leben, zu sich selbst und zur Welt. Fleischverzicht war vielerorts ein Weg, Ordnung, Reinheit oder moralische Integrität herzustellen.

Die Anfänge vor tausenden Jahren

Als erstes entfaltet die Dokumentation die vegetations- und lebensbejahenden Philosophien des alten Indien. Besonders im Jainismus, der ab dem 7. Jahrhundert v. Chr. entstand, hat der Vegetarismus einen zentralen, religiösen Kern: den Grundsatz der Gewaltlosigkeit (Ahimsa). Dieser erstreckt sich auf alle Lebewesen, nicht nur auf Menschen. Das Töten von Tieren gilt nicht nur als moralisch falsch, sondern als spirituell schädlich. Der Film schildert, wie dieser Gedanke den Alltag prägte: viele Jains tragen heute noch Mundschutz, um nicht versehentlich Insekten zu verschlucken, und kehren Wege ab, um kein Lebewesen zu beschädigen. Hier zeigt sich eine Verbindung zwischen Ernährung, Seelenlehre und kosmischer Ordnung, die Jahrtausende alt ist und zugleich moderner Ethik erstaunlich nahekommt.

Von Indien und Südostasien führt die Dokumentation in die antike Mittelmeerwelt. Auch dort entwickelt sich ein Denken, das Fleischverzicht als ethische Entscheidung begreift — allerdings aus einer anderen Perspektive. Bei Pythagoras und seinen Anhängern steht nicht Gewaltlosigkeit im Mittelpunkt, sondern die Idee der Seelenwanderung. Wenn Tiere und Menschen denselben Seelenzyklus durchlaufen, dann ist das Töten von Tieren nicht nur barbarisch, sondern ein Angriff auf das eigene spirituelle Schicksal. Der Film beschreibt, wie pythagoreische Gemeinschaften versuchten, ein „reines Leben“ zu führen: maßvoll, selbstdiszipliniert, harmonisch mit der Natur. Dieser antike Vegetarismus ist eng mit Askese verknüpft und wird im Film als eine frühe Form der Lebensstilphilosophie gezeigt.

Der Fleischkonsum erstarkt

In späteren Epochen verliert der Vegetarismus in Europa zeitweise an Sichtbarkeit, bleibt aber – etwa in christlich-asketischen Traditionen – immer präsent. Klösterliche Fastenregeln, fleischlose Tage und spirituelle Reinheitsvorstellungen prägen das Mittelalter. Der Film macht jedoch deutlich, dass es sich hier nicht um Vegetarismus im modernen Sinn handelt, sondern um religiöse Regulierung. Dennoch zeigt diese Epoche, dass Fleisch historisch nie nur Nahrung war, sondern Symbol für Wohlstand, Macht oder Sünde.

Ab dem 18. Jahrhundert nimmt der Fleischkonsum in Europa stark zu, angetrieben von Industrialisierung und wachsender Landwirtschaft. Die Dokumentation erklärt, wie Fleisch allmählich vom seltenen Luxusgut zur alltäglichen Selbstverständlichkeit wird. Parallel entwickeln sich reformorientierte Denker und Bewegungen, die diese Entwicklung hinterfragen. Die Aufklärung bringt ein neues Verhältnis zu Natur und Tier hervor: Tiere werden nicht mehr nur als Ressourcen gesehen, sondern als fühlende Wesen, zu denen Menschen in Beziehung stehen. Der Film skizziert diese philosophischen Strömungen, die bis heute nachwirken.

Ein wichtiger historischer Wendepunkt ist die Gründung der Vegetarian Society in London im Jahr 1847. Die Dokumentation zeigt sie als erste moderne Organisation, die Vegetarismus als gesellschaftliche Idee formuliert: nicht nur gesundheitlich, sondern moralisch, sozial und politisch. Der frühindustrielle Vegetarismus ist dabei eng verknüpft mit Reformbewegungen wie dem Temperenzler-Milieu, frühen Gesundheitsgemeinschaften und dem wachsenden Interesse an Naturheilkunde. Vegetarismus wird zu einem Ausdruck von Selbstoptimierung, aber auch Kritik an Industrialisierung, Ausbeutung und Tierquälerei.

Von der Ernährung zur Identität

Besonderen Raum widmet die Dokumentation der Frage, wie Ernährung zum identitätsstiftenden Lebensstil wurde. Ab Ende des 19. Jahrhunderts entstehen vegetarische Restaurants, Kochbücher, Zeitschriften und Vereine. Fleischverzicht wird zu einer Form der Selbstbeschreibung, die Weltanschauung, Moral und Körpervorstellungen verbindet. Der Film zeigt, wie Menschen diese Lebensweise nicht nur als Diät, sondern als sozialen Entwurf verstanden: für Gesundheit, Reinheit, Harmonie, oft auch für soziale Reform und eine friedfertigere Gesellschaft.

Im 20. Jahrhundert gewinnt der Vegetarismus neue Momentum-Schübe — insbesondere durch Umweltbewegungen, Tierschutzinitiativen und die Entdeckung der industriellen Massentierhaltung als ethisches Problem. Der Film macht deutlich, dass moderne vegetarische und vegane Strömungen sich aus mehreren Traditionen speisen: der spirituellen Gewaltlosigkeit Asiens, der philosophischen Selbstdisziplin der Antike, der bürgerlichen Reformkultur des 19. Jahrhunderts und den ökologischen Krisenszenarien der Gegenwart. Fleischverzicht wird nun sowohl aus moralischen als auch aus pragmatischen Gründen diskutiert: Klimawandel, Ressourcenschonung, Welternährung, Gesundheit und Tierwohl verschränken sich zu einem globalen Thema.

In der Gegenwart ist Vegetarismus nicht mehr nur eine idealistische Haltung, sondern ein bedeutender Teil des Ernährungs- und Lebensstilmarkts. Die Dokumentation beschreibt, wie pflanzliche Ernährung von der Subkultur zum Mainstream wurde, begleitet von technologischen Innovationen wie Fleischersatzprodukten, Laborkulturen und nachhaltigen Proteinalternativen. Gleichzeitig bleibt der Vegetarismus kulturell aufgeladen: Er steht für bewusste Lebensführung, Kritik am Konsum, aber auch für neue Identitätsangebote in einer Zeit ökologischer Unsicherheiten. Der Film macht deutlich, dass diese Entwicklung ambivalent ist — einerseits entlastend für Umwelt und Tiere, andererseits Teil einer kapitalisierten Wellnesskultur.

Wichtige Fragen werden aufgeworfen

Zum Schluss schlägt die Dokumentation den Bogen zurück zur grundlegenden Frage: Warum entscheiden sich Menschen überhaupt dazu, auf Fleisch zu verzichten? Die Antwort, die der Film vermittelt, ist vielschichtig. Vegetarismus ist immer mehr als Ernährung. Er ist ein Ausdruck von Zugehörigkeit oder Abgrenzung, ein moralisches Statement oder ein Gesundheitsversprechen, ein spiritueller Weg oder ein politischer Akt. Er ist ein Spiegel kultureller Werte und Weltbilder, aber auch ein Werkzeug, um sich selbst in einer komplexen Welt zu positionieren. Die lange Geschichte dieses Lebensstils macht deutlich, dass die heutigen Debatten um Klima, Tierethik und Gesundheit nur das jüngste Kapitel einer viel älteren Menschheitsgeschichte sind.

Damit rückt der Film eine zentrale Erkenntnis in den Vordergrund: Vegetarismus ist keine Mode, sondern eine historische Konstante — eine Praxis, die in verschiedensten Kulturen immer wieder neu erfunden wurde, weil sie Antworten auf Fragen liefert, die die Menschheit seit Jahrtausenden beschäftigen: Wie wollen wir leben? Welche Rolle haben Tiere in unserer Welt? Und wie sieht eine Ernährung aus, die unserer Vorstellung von einem guten Leben entspricht?

Die gesamte Dokumentation kann man jetzt hier bei ARTE sehen.


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