Reportage

Wie unsere Landwirtschaft mit einem „Agrarhackler“ zum Vorbild werden kann

Norbert Totschnig ist der neue Landwirtschaftsminister in Österreich. Wir haben mit ihm über Artenvielfalt, die Macht des Handels und den Weg der heimischen Landwirtschaft gesprochen.

1/29/2023
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Wie unsere Landwirtschaft mit einem „Agrarhackler“ zum Vorbild werden kann

Fast schon wie ein Rockstar, gleitet der deutsche Landwirtschaftsminister Cem Özdemir durch die riesigen Flächen der „Internationalen Grünen Woche“ in Berlin, der weltgrößten Messe für Landwirtschaft und Ernährung. Umgeben von dutzenden Schaulustigen flaniert er durch die Hallen. Sie ist eine der Höhepunkte des agrarischen Jahreskalenders und traditionell auch ein wichtiger Anlass, um für die Politik über Erreichtes nachzudenken und Neues anzukündigen.

Das hat dieser Minister bereits vor der Großmesse getan, in den Wochen davor hat er mit verschiedenen Forderungen und Vorstellungen für gehörig öffentliche Aufregung in Deutschland gesorgt. Und für Begeisterung. Doch so mancher Bauernvertreter warnt vor dem drohenden „Untergang“ der Landwirtschaft. Auf der Messe selbst hingegen werden Hände geschüttelt, viel gelächelt und es bilden sich Menschentrauben, wohin er auch kommt.

Cem Özdemir, der wohl beliebteste Landwirtschaftsminister in der deutschen Geschichte und vermutlich auch dem unkonventionellsten. Denn der Deutsche mit familiärer Migrationsgeschichte ist bekennender Vegetarier seit seiner Jugend und das bildet sich auch in seiner Programmatik ab. Etwa in der Forderung nach einer Abschaffung der Steuer auf Obst und Gemüse, um den Konsum pflanzlicher Produkte zu forcieren.

Typus „Agrarhackler“: Alle Zahlen im Kopf

Die Massentierhaltung, in Deutschland weit verbreitet, will er zurückdrängen, das Modell Österreich scheint zum Vorbild zu werden. Und mit ihr der für sie verantwortliche österreichische Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig. Er ist erst seit acht Monaten im Amt, doch bereits seit vielen Jahren eine der prägendsten Persönlichkeiten in der Landwirtschaft. “Ich bin kein Showman“, sagt er über sich selbst. Totschnig ist mehr der Typus „Agrarhackler“.

Bei seinem Besuch auf der „Grünen Messe“ sieht man ihn oft im Zwiegespräch mit ausstellenden Bäuerinnen und Bauern und mit Besuchern. Man merkt, dass ihm die Sache ein großes Anliegen ist und dass er ein Agrar-Experte ist, die Inszenierung hingegen ist weniger wichtig für ihn. Die neuesten Zahlen und Fakten aus seinem Ressort hat er im Kopf, das merkt man auch beim Interview. oekoreich hat den Landwirtschaftsminister zum Gespräch getroffen. Fragen gab es viele.

Denn kurz vor der Messe wurden die neuesten Zahlen zur Entwicklung der österreichischen Landwirtschaft präsentiert und die machen Hoffnung. Das Agrarumweltprogramm ÖPUL weist beeindruckende Steigerungsraten auf – so sind etwa um 200 Prozent mehr Anträge zur Tierwohl-Stallhaltung bei Rindern eingelangt. Worauf führt der Minister das zurück? „Wir haben mit der ökosozialen Agrarpolitik den richtigen Weg eingeschlagen. Mehr als 80 Prozent der Bäuerinnen und Bauern nehmen am Agrarumweltprogramm teil, das müssen uns andere erst nachmachen.“

Rund 90.000 Anträge verzeichnet das ÖPUL-Programm aktuell, eine weitere Steigerung gegenüber Vorjahren, auf bereits hohem Niveau. Mit ÖPUL werden Maßnahmen zur Steigerung von Biodiversität, Klimaschutz und Tierwohl gefördert, die teilnehmenden Betriebe müssen aber auch deutlich mehr machen als gesetzlich vorgeschrieben. Eine absolute Auszeichnung also, dass fast alle heimischen Landwirte mitmachen.

Überraschende Erkenntnisse durch „Insektenstudie“

Wie notwendig mehr Nachhaltigkeit ist, das zeigt auch der Klimawandel. Denn Land- und Forstwirtschaft gehören zu den ersten Betroffenen des Klimawandels. Hier gehört Österreich mit der Erforschung klimafitter Sorten oder ressourcenschonendem Wassereinsatz ebenfalls zu den Vorreitern. Eine neue „Insektenstudie“ dokumentiert zudem, dass die landwirtschaftliche Nutzung zu mehr Biodiversität beiträgt. Es ist die umfangreichste Erhebung zur Entwicklung der Insektenpopulation, die es in Österreich je gegeben hat.

Sie zeigt, die Entwicklung der Insektenpopulationen in Österreich ist deutlich positiver als bisher angenommen. Die Gesamtzahl von Insekten der meisten untersuchten Gruppen ist in Summe stabil geblieben. Auch die Menge an Insekten pro Testfläche – die sogenannte Individuendichte – zeigt in Summe stabile Verhältnisse, wobei sowohl Zunahmen als auch Abnahmen festgestellt wurdenAber: 25 Prozent der Arten wurden durch andere Arten ersetzt, die sich an die wärmeren, trockeneren Bedingungen anpassen – ebenfalls eine Folge des Klimawandels. Grund zur Sorge?

Zum ersten Mal haben wir Langzeitdaten für die Entwicklung der Insektenvielfalt in Österreich und sie zeigen, dass die Anzahl stabil bleibt. Das ist eine gute Nachricht. Entscheidend ist, dass wir die Biodiversität, Hecken und Flure wie auch Wasserzugänge weiter erhalten – das geht nur mit unseren Bäuerinnen und Bauern. Mit der neuen Gemeinsamen Agrarpolitik werden die Biodiversitätsflächen von 150.000 Hektar auf 230.000 Hektar ausgeweitet. Ohne Insekten keine Bestäubung. Ohne Bestäubung keine Lebensmittel Ein Ergebnis der „Insektenstudie“ ist auch, dass genutztes Grünland eine höhere Artenvielfalt aufweist als Flächen, die nicht bewirtschaftet werden. Dazu müssen wir einen breiten Dialog führen.“

Dialog, das ist ein Wort, das wir bei unserem Interview noch oft hören werden. Und es beschreibt vielleicht diesen Minister am besten, der – durchaus im wohltuenden Unterschied zu anderen politischen Akteuren – mehr ein aktiver Zuhörer, denn ein Marktschreier ist.

nullBML/Hemerka
Bundesminister Norbert Totschnig im Interview mit Sebastian Bohrn Mena bei der "Grünen Woche 2023" in Berlin
Der Minister setzt auf die AMA

 Cem Özdemir, der deutsche Rockstar-Minister, möchte ein staatliches Siegel für Verbraucher einführen, entlang von fünf Kategorien sollen die Menschen in Supermärkten künftig die Haltungsform erkennen können. Beginnen will er beim Schweinefleisch, ausgerechnet. Das Land von Fleischkonzernen wie Tönnies & Co hat einen extrem schlechten Ruf im Umgang mit Schweinen, umso mutiger ist die Ansage des deutschen Ministers.

Ist so ein Siegel in Österreich auch vorstellbar? Norbert Totschnig verweist darauf, dass Österreich bereits zu den Ländern mit den höchsten Standards gehört. Zudem gibt es in Österreich das AMA-Gütesiegel, das 2023 sein 30-jähriges Bestehen feiert. Sein Ziel ist, dass die Anzahl der Schweine in Österreich, die in Tierwohlprogrammen leben, sich vervierfacht: „Eine Million Tierwohl-Schweine pro Jahr, das wollen wir erreichen. Doch dazu müssen alle entlang der Kette mitmachen, auch der Lebensmittelhandel und die Konsumenten. Denn klar ist: Wer höhere Standards bestellt, muss sie auch kaufen.“ Zudem gebe es das neue Gütesiegel AMA GENUSS REGION für bäuerliche Direktvermarkter, Manufakturen oder Gastronomiebetriebe. „Wem die Herkunft von Lebensmitteln wichtig ist, kann bereits jetzt seinen Direktvermarkter oder sein Lieblingslokal danach auswählen – das AMA GENUSS REGION Siegel steht für geprüfte, regionale Qualität“, so Totschnig.

Apropos. Zuletzt wurde die AMA heftig kritisiert, gerade auch vom Handel. Die drei marktbeherrschenden Konzerne stehen jedoch selbst in der Kritik, immerhin würden sie mit Rabattschlachten eine Abwärtsspirale in Gang setzen und diese wiederum die Entwertung von Lebensmitteln vorantreiben. Welche Verantwortung trägt der Handel für das Wohlergehen der Tiere und den Fortbestand der heimischen Bauernhöfe?

Der Handel ist ein wichtiger Partner für die heimische Landwirtschaft, das sehen wir etwa bei Bio-Lebensmitteln. Aber die hohe Wettbewerbskonzentration bringt auch große Herausforderungen mit sich. Deswegen haben wir das Gesetz gegen unfaire Geschäftspraktiken umgesetzt und ein Fairnessbüro eingerichtet, an das sich betroffene Bäuerinnen und Bauern wenden können.“ 

Offene Märkte und Testballons

Der Handel würde in einem offenen Markt agieren, ergänzt der Minister noch, entsprechend schnell könnten sich Dinge verändern. Darauf müsse man reagieren. Wie schnell das gehen kann, das zeigt ein aktuelles Beispiel, das – wohl nicht zufällig – kurz vor der „Grünen Woche“ publik wurde. Der mächtige Handelskonzern REWE, in Österreich mit Billa, Penny und Adeg vertreten, hat in Deutschland gerade einen Testballon gestartet.

Als erster Handelskonzern weist REWE nun bei ausgewählten Produkten eigene „Klimapreise“ aus. Die Kosten für tierisches Fleisch, Milch & Käse sind dabei um bis zu 90 Prozent höher als die pflanzlichen Vergleichsprodukte. Dazu passend wirbt REWE mit seinem großen veganen und vegetarischen Sortiment, auch in Österreich kann in den letzten Monaten extrem starke Werbeaktivität beobachtet werden. Ein Zukunftsmodell?

Sinkender CO2-Ausstoß

Hier merkt man zum ersten Mal die Emotion bei Norbert Totschnig. Dass die Bauern mitunter als „Klimasünder“ in der öffentlichen Debatte bezeichnet werden, das scheint ihn offenbar zu ärgern. Zumal die vorliegenden Fakten ein anderes Bild zeichnen würden: „Die vermeintlich emissionsärmere Produktion von pflanzlichen Lebensmitteln in abgekapselten Einheiten kann doch nicht unser Weg sein. Außerdem ist der CO2-Fußabdruck von heimischen Erzeugnissen um einiges niedriger als gemeinhin angenommen und sinkt weiter.

Er meint damit zum Beispiel die Milch. Die Produktion von einem Kilogramm österreichischer Milch erzeugt inzwischen nur noch rund 500 Gramm CO2 – und damit nur noch knapp die Hälfte dessen, was sie noch vor 30 Jahren erzeugte. Generell liegen die Emissionen in der Landwirtschaft deutlich unter jenen Deutschlands, auch ein Resultat des hohen Bio-Anteils. Denn hier ist Österreich unbestrittener Weltmeister, wie Totschnig betont. Tatsächlich liegt die Bio-Quote mit 26 Prozent mehr als doppelt so hoch als wie in Deutschland (11 Prozent).

Umsetzen, statt Papiere wälzen

Und doch gewinnt man bei der Durchsicht der Medienberichte den Eindruck, dass die Deutschen deutlich ambitionierter vorgehen würden als die Österreicher. Etwa mit ihrer „Borchert-Kommission“, vor Jahren eingesetzt von Kanzlerin Merkel höchstpersönlich, die viele Vorschläge für eine Transformation formuliert hat. Braucht es eine derartige Kommission nicht auch in Österreich, um mehr Tempo zu erreichen?

Deutschland hat noch einen langen Weg vor sich, den wir bereits hinter uns haben. Wir haben mit der ökosozialen Agrarpolitik den richtigen Weg eingeschlagen - ökonomisch tragbar, ökologisch machbar und sozial ausgewogen ist bei uns gelebte Praxis. Wir sind Bio-Europameister, 80% unserer Betriebe machen beim Agrarumweltprogramm mit. Wir gehören zu den Ländern mit den höchsten Tierwohlstandards und mit dem Tierwohlpaket bauen wir diese Vorreiterrolle weiter aus. Unser Erfolg liegt in der Umsetzung, nicht in der Produktion von Papieren. Wir brauchen aus meiner Sicht keine Kommission und auch nicht noch mehr theoretische Vorschläge, wir brauchen mehr Miteinander beim Tun. Das ist es, was uns weiterbringt“, so der Minister. Da ist er wieder, der Appell an den Dialog.


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