Seit zehn Jahren schon betreibt Hüseyin Çelik sein Lokal Can Cafe an der stark befahrenen Gudrunstraße in Wien Favoriten. Die südseitige Fassade würde sich gut für eine Terrasse eignen, aber der Gehsteig ist flankiert von parkenden Autos hinter denen der Verkehrslärm dröhnt. “Ja, weniger Autos, das wäre gut. Dann gäbe es mehr Platz, weniger Lärm und ich würde eine Terrasse aufmachen”, sagt Çelik, während er Türkischen Tee in ein kleines Glas gießt. An der Wand hängt ein Fernseher, in dem ein türkischer Sender läuft. Am Nebentisch spielen vier Männer Karten. Sie nicken zustimmend, um sich dann gemeinsam zum Rauchen vor den Cafe-Eingang zu stellen.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite von Çeliks Cafe befindet sich ein Kindergarten und dahinter der Erlachpark. Dort beginnt der Bereich, den die Stadt Wien für ihr Pilotprojekt “Supergrätzel” auserkoren hat. Zwischen Gudrunstraße, Leebgasse, Quellenstrasse und Neilreichgasse soll ein von Barcelona inspirierter Superblock entstehen. Der Autoverkehr soll stark reduziert werden, Fußgänger und Radfahrer mehr Raum bekommen. Es geht aber auch darum, wieder mehr Leben auf die Straßen zu bringen.
Kein Auto in Wien?
Vom Supergrätzel hören Çelik und die anwesenden Gäste zum ersten Mal. Weniger Verkehr finden sie auf jeden Fall gut. “Ganz Wien sollte ein Supergrätzel werden”, schlägt einer von ihnen vor. Günes Güven ist in Favoriten aufgewachsen, wohnt aber seit einigen Jahren im angrenzenden 5. Bezirk. “Ich liebe das Grün”, so der 38-Jährige. Er ist der Meinung in Wien benötige man kein Auto, weil die Öffis so gut ausgebaut sind. “An den Autos stört mich der Lärm, die schmutzige Luft und die Parkplätze”, so Güven weiter, der daran zweifelt, dass die stark befahrene Gudrunstraße einmal verkehrsberuhigt werden könnte.
Wovon Güven träumt, ist in Barcelona zum Teil schon Wirklichkeit. Engracia und Juan sind in ihren 80ern und wohnen ihr halbes Leben im Stadteil Sant Antoni. Das Paar sitzt auf einer Bank, die mitten auf der Straße steht. Sie unterhalten sich mit einer jungen Frau. Die Kreuzung vor ihnen ist vollgestellt mit riesigen Töpfen, aus denen Bäumchen wachsen, und an denen stufenartige Sitzgelegenheiten angebracht sind. Auf den Stufen trinkt junges Paar Kaffee aus Pappbechern. Zwei Mädchen spielen zwischen Steinskulpturen Fangen. Daneben ist ein Tisch an dem Arbeiter ihre mitgebrachte Jause essen. Ein Stück weiter in der Straße spielen junge und ältere Männer auf zwei Tischen Schach und werden von Schaulustigen über den nächsten Zug beraten. Wo vor zwei Jahren noch auf der dreispurigen Fahrbahn Autos vorbeibrausten, spazieren heute gemütlich die Fußgänger.
Internationale Schlagzeilen
Der Superblock in Sant Antoni entstand 2019. “Es ist viel besser als vorher”, lobt Juan die Verbannung der Autos aus dem Viertel. “Wir können uns jetzt auf der Straße treffen und abends kommen sogar die Reichen aus Sarrià zu uns. Unser Viertel ist richtig In”, sagt Juan stolz. In Sant Antoni befindet sich einer von mittlerweile drei Superblöcken, dank denen Barcelona international in die Schlagzeilen gekommen ist.
Schon bald kommt etwas Barcelona Flair nach Favoriten. Die ersten Maßnahmen für das Supergrätzel sind für im Frühjahr 2022 geplant. “Zuerst soll der Durchzugsverkehr mit temporären Maßnahmen wie Betonleitwänden verhindert werden”, erklärt Bezirksvorsteher Marcus Franz, der sich schon mit der Initiative für Fassadenbegrünung “Grünstattgrau” als grüner Roter einen Namen in Wien gemacht hat. Anrainer, Rettung, Müllabfuhr und Lieferverkehr sollen aber weiterhin Zufahrt haben, betont Franz. Weitere Maßnahmen sollen gemeinsam mit den Anrainern und Experten beschlossen werden. “Das können zum Beispiel eine Begegnungszone sein, die Verlängerung der Fußgängerzone in der Herzgasse oder Grünpflanzungen”, so Franz. Ein Wermutstropfen bleibt: eine Verkehrsberuhigung der Grenzstraßen etwa der Gudrunstraße, wo Çelik sein Cafe betreibt, ist nicht vorgesehen.
Eine Hitzeinsel, die zum Piloten wird
Die 80-jährige Christine wohnt seit 75 Jahren in Favoriten. Vom Supergrätzel-Konzept hat sie schon gehört. “Ich finde das toll. Weniger Autos bedeuten bessere Luft und man kann sich mit den Leute auf der Straße treffen” sagt die Rentnerin. Dass die Wahl für das Pilotprojekt auf Favoriten fiel, ist kein Zufall. Der Bezirk, der zu den am dichtest besiedelten Wiens gehört, ist eine der Hitzeinseln der Stadt. Hier wird es im Sommer besonders heiß, worunter besonders Ältere und Kinder leiden. Asphalt und Beton speichern die Wärme, weshalb es auch in der Nacht oft noch heiß bleibt, was die Gesundheit beeinträchtigt. Abhilfe können mehr Grünräume schaffen, die für Schatten und Abkühlung sorgen.
Werden keine Maßnahmen gegen den Klimawandel gesetzt, werde die Temperatur in Österreich bis 2100 um mindestens 5 Grad höher als 1880 sein, so die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik. Dass es bereits heißer geworden ist, zeigen historische Klimadaten: Zwischen 1961 und 1990 erlebte Wien durchschnittlich 9,6 Hitzetage im Jahr, von 1981 bis 2010 waren es durchschnittlich schon 15,2 Hitzetage pro Jahr.
Gefährliche Feinstaubbelastung
Doch nicht nur die Hitze ist eine gesundheitliche Bedrohung. Jedes Jahr sterben schätzungsweise 400.000 Europäer vorzeitig an den Folgen von Luftverschmutzung, 6.100 davon in Österreich. Zu den Schadstoffen in der Luft zählen Feinstaub, Stickstoffoxide, Schwefeldioxide und Ozon. Unter Feinstaub werden kleinste Staubpartikel zusammengefasst, die mit dem Auge nicht erkennbar sind. Je kleiner die Partikel, umso tiefer dringen sie in die Atemwege und von dort über die Lungenbläschen bis in die Blutbahn vor. Das macht krank, vor allem, wenn erhöhte Konzentrationen längerfristig anhalten. Die Folgen sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfälle, Atemwegserkrankungen und Lungenkrebs.
Laut der EU-Umweltagentur ist die Luftverschmutzung in vielen europäischen Städten ein ernstes Problem. In 196 der 323 von der EU-Umweltagentur erfassten Städte ist die Luftqualität mittelmäßig bis sehr schlecht (https://www.eea.europa.eu/themes/air/urban-air-quality/european-city-air-quality-viewer). Auch in Wien besteht bei der Luftqualität Luft nach oben: Die Feinstaubbelastung liegt zwar unter dem EU-Grenzwert, aber über dem strengeren Grenzwert der WHO.
Im März dieses Jahres beschloss das EU-Parlament strengere Grenzwerte und fordert die EU-Kommission damit zu einer Überarbeitung der EU-Luftqualitätsrichtlinie auf, um die aktuellen EU-Grenzwerte für Luftschadstoffe an die von der WHO empfohlenen Höchstwerte anzugleichen. Doch selbst die bisher geltenden Grenzwerte werden häufig nicht eingehalten. “Zur Zeit laufen 31 Vertragsverletzungsverfahren gegen 18 Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit der Umsetzung der EU-Luftqualitätsrichtlinie. Einige dieser Verfahren begannen bereits 2009” so der grüne EU-Parlamentarier Sven Giegold.
Zuerst Unmut, dann Erleichterung
Eine der wichtigsten Quellen für Feinstaub ist freilich das Auto, das jedoch noch viele weitere Probleme in Städten verursacht. “Das Auto wird nur zu 20 Prozent für Mobilität genutzt, nimmt aber 60 Prozent des öffentlichen Raumes ein”, sagt Barcelonas Bürgermeisterin Ada Colau, die seit 2016 im Amt ist. Hinzu kommt, dass die Stadtbevölkerung zunimmt: laut Schätzungen wird bis 2050 der Anteil der Menschen, die in Europa in Städten wohnen von 75 auf fast 85 Prozent steigen. Für Colau besteht im dicht bewohnten Barcelona akuter Handlungsbedarf. Der Raum müsse gerechter verteilt werden. So war eine ihrer ersten Maßnahmen als Bürgermeisterin die rasche Umsetzung des ersten Superblocks in Poble Nou. Mitten auf den Kreuzungen entstanden Kinderspielplätze, Parkplätze wichen großzügigen Pflanzentrögen, Sitzbänken und Tischen, die zum Verweilen einladen und bunte Markierungen für Spiele brachten etwas Farbe auf den grauen Asphaltboden.
Trotz des großen Erfolgs dieses Pilots, sorgte die radikale Verdrängung des Autos zunächst auch für Unmut unter einigen Anwohnern. Kritisiert wurde der Straßenverlauf, der zu einer ungleichen Verteilung des Verkehrs führte. Durch Anpassung einzelner Maßnahmen im Dialog, konnten die Probleme gelöst werden. Die Stadtregierung lernte aus ihren Fehlern. Bei der Umgestaltung der Stadt setzen Barcelonas Stadtplaner heute stärker auf Kommunikation und die Beteiligung der Anwohner. “Taktische Stadtplanung” heißt das in der Fachsprache. Dabei werden zunächst temporäre, kostengünstige Maßnahmen wie farbliche Bodenmarkierungen, Pflanzentröge und Sitzgelegenheiten aufgestellt, bevor dann definitive Veränderungen umgesetzt werden. Heute ist der Superblock in Poble Nou ein Vorzeigeprojekt, das Stadtplaner aus der ganzen Welt besuchen.
Nicht alle sind begeistert
Mit taktischer Stadtplanung will auch der Favoritner Bezirksvorsteher Franz arbeiten. Auch im designierten Supergrätzel in Favoriten nimmt das Auto überproportional viel Raum ein, während nur 26 Prozent der Bewohner eines besitzen. In Abstimmung mit den Anwohnern kann sich Bezirksvorsteher Franz auf einer Straßenseite breitere Gehsteige vorstellen und dafür eine Parkspur aufzulassen, oder Schrägparkplätze in Längsparkplätze umzugestalten. Die Pilotphase wird zwei Monate dauern. Danach werde man evaluieren, welche definitiven Maßnahmen man umsetzten wird. “Für die temporären Maßnahmen mit Betonleitwänden und Taferln im Eckbereich sind etwa 25.000 Euro vorgesehen”, so Franz. Er ist zuversichtlich, dass sich die Stadt Wien finanziell beteiligen werde. “Dafür müsse man dann wissen, welches Ausmaß und in welchem Tempo die Maßnahmen umgesetzt werden.”
Während in Wien das Pilotprojekt in Favoriten erst noch vorbereitet wird, ist man in Barcelona aber schon zwei Schritte weiter. Der Masterplan ist nun Barcelona innerhalb der nächsten zehn Jahre zu einem einzigen Superblock umzugestalten. Statt wie bisher einzelne Superblöcke zu schaffen, sollen ganze Straßenzüge zu “grünen Achsen” werden. Dazu muss aber parallel auch der öffentliche Verkehr weiter ausgebaut werden. Im Superblock von Sant Antoni wurde der Ansatz dieser grünen Achsen bereits integriert. “Die Idee dahinter ist, offener zu sein. Denn die Schwäche der Superblöcke ist, dass sie wie Festungen wirken, in denen die Anwohner privilegiert sind, während die anderen durch die Finger schauen”, erklärt Ton Salvado, Architekt und von 2016 bis 2019 Leiter für Stadtmodellentwicklung im Rathaus von Barcelona.
Doch auch in Sant Antoni lassen sich Gegner des Superblocks finden. Der Kaffeehändler Daniel Marin kann den Veränderungen vor seinem Geschäft kaum Positives abgewinnen. “Es ist alles viel schmutziger und unter den Pflanzentrögen haben sich Ratten angesiedelt”, ärgert er sich. Außerdem habe er viele Kunden verloren, weil die Anfahrtsmöglichkeiten nun eingeschränkt sind. Welcher Anteil des Kundeneinbruchs tatsächlich auf die Pandemie zurückzuführen ist, kann er nicht sagen. Er ist überzeugt, dass es mit dem Superblock zu tun habe. Eine Kundin stimmt ihm zu. “Es ist schlimm. Die Bänke werden von Obdachlosen zum Schlafen genutzt”, empört sie sich.
Den Menschen Zeit geben
Eine Untersuchung der Stadtverwaltung in Barcelona ergab hingegen, dass sich der Handel in Sant Antoni von der Pandemie erholt hat und die Umsätze das Niveau von vor der Pandemie sogar übertroffen haben. Trotz kritischer Stimmen sei die Umsetzung von Maßnahmen zur Verkehrsreduzierung enorm wichtig, heißt es von der Wiener Umweltanwaltschaft. “Man muss den Menschen Zeit geben, mit dem neu gewonnenen Freiraum umzugehen lernen”, heißt es dort auf Anfrage.
Das Supergrätzel in Favoriten ist übrigens nicht der erste Versuch das Superblock-Modell nach Wien zu bringen. Bereits 2020 war rund um den Volkertmarkt in der Leopoldstadt ein Pilotprojekt geplant. Doch nach der Wienwahl hat die SPÖ den Bezirk von den Grünen übernommen und das Projekt landete in der Schublade.
Und in Meidling hat die Architektin Sigrid Mayer die Bürgerinitiative “Mei Meidling” ins Leben gerufen. Sie will den Bereich rund um den Meidlinger Markt durch begrünte Hausfassaden, Entsiegelung und Begrünung des Straßenraums aufwerten und gesünder gestalten. Klimafreundliche Veränderung muss also nicht immer von oben diktiert werden. Frei nach dem Motto in Barcelona: “Lasst uns die Straßen mit Leben füllen!” Bis Wien allerdings zu einem einzigen Supergrätzel wird, wird noch viel Wasser die Donau hinabfließen.
In eigener Sache: Wir arbeiten zu 100 Prozent unabhängig von Staat, Parteien, NGOs und Konzernen. Um unseren Fortbestand zu sichern, sind wir auf Abonnent*innen angewiesen. Bitte schließen Sie jetzt ein Abo ab und ermöglichen Sie damit unsere Berichterstattung. Danke!
In eigener Sache: Wir arbeiten unabhängig von Parteien und Konzernen. Um unseren Fortbestand zu sichern, sind wir auf Abonnent*innen angewiesen. Bitte schließen Sie jetzt ein Abo ab und ermöglichen Sie damit unsere Berichterstattung. Danke!